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Erinnerungen: Das Zeitfenster im Kopf

Foto: Suzy Hazelwood (Pexels)
Foto: Suzy Hazelwood (Pexels)

Was ist Erinnerung?


In unserem Leben erinnern wir uns an alle möglichen Begebenheiten. An die aufregenden und schönen Erlebnisse, aber auch an die traurigen und schrecklichen Momente. Wenn ein Mensch von uns geht, den wir sehr geliebt haben, dann erinnern wir uns oftmals fast ausschließlich an die guten Seiten, die uns mit diesem Menschen verbinden. Diese besonderen Erinnerungen steuern unseren Gefühlshaushalt, unsere Beziehungsmuster, unsere Meinungen und unsere Handlungen. Wir interpretieren die Welt und unsere Lage durch die Brille dieser Erinnerungen. Sie können uns ermutigen und beflügeln – oder behindern und belasten.

 

Erinnerungen sind ein Potpourri aus Fakten und Fiktion

Die Erinnerung wird lebhaft, ja fast greifbar und kommt zu uns zurück. In Bildern. Wir haben Bilder im Kopf. Bilder, die unser Leben erklären. Bilder, die uns Kraft geben und Bilder, deren Wucht den Schorf alter Wunden wieder absprengen kann. Wir haben Erinnerungen im Kopf, luftige Gebilde, Wolkenklumpen, ein für uns zusammengestelltes Potpourri aus Fakten und Fiktion. So real und greifbar uns Erinnerungen erscheinen, sind sie tatsächlich aber nur Konstruktionen des Gehirns, des Geistes, mit der Dramaturgie einer Erzählung und der Faszination einer Zeitmaschine.

 

„Wir können uns trotzdem mühelos mental an andere Orte und in andere Zeiten befördern“, sagt der neuseeländische Kognitionsforscher Michael Corballis. Und sind wir dort erst einmal angekommen sind wir nicht mehr allein. Wir erzählen die Geschichte eines Menschen, der uns berührt hat. Aber wie erinnert man sich an einen Menschen? Was macht eine gute Lebensgeschichte aus? Das reine Auflisten von Fakten funktioniert hier nicht. Unser Gehirn braucht Emotionen, um das Stroh des Lebens zu Gold zu spinnen. 

 

 

Sich erinnern heißt, etwas zu verinnerlichen

Das ist unser Lieblingsfeature: Unser Gehirn kann lose Einzelheiten zu Geschichten verschmelzen. Dabei wandert das Erlebte vom Außen ins Innere: Sich erinnern heißt, etwas zu verinnerlichen. Das ganze Leben des geliebten Menschen scheint in einem Augenblick präsent zu sein. Bei diesem Song im Radio. Beim Geruch von Basilikum oder Seife. Beim Essen.

 

Beim Finden einer einzelnen Socke. Beim Leben. Dann kommt dieser Mensch für einen Moment zu uns zurück. Lebhafte Erinnerungen beflügeln uns, halten die Zeit an und setzen heimlich konservierte Glücksgefühle frei. Sie bringen uns weiter. Und den Trauernden. Denn nur wer weiß wo er herkommt kann bestimmen, wo er hin möchte.

 

 


Dieses praktizierte Erinnern setzt viele positive Effekte frei, die auch in der Trauerbegleitung einen sinnvollen Platz finden:

Dieses praktizierte Erinnern setzt viele positive Effekte frei, die auch in der Trauerbegleitung einen sinnvollen Platz finden:

  • Verbesserte Gemütslage: Britische Studenten, die in einer Untersuchung eine positive Erinnerung aufschreiben sollten, waren danach besser gelaunt als die Kontrollgruppe, die neutrale Ereignisse festgehalten hatte. Erinnerung wirkt wie ein Vorrat an Hochgefühlen, von dem man in Zeiten von Einsamkeit oder Langeweile zehren kann.
  • Gesteigertes Selbstbewusstsein: Erinnerungen kurbeln das Selbstbewusstsein an. In der oben erwähnten britischen Studie lag auch die Selbstachtung tendenziell höher als in der Kontrollgruppe. Wie kam das? Die Forscher vermuten, dass man sich selbst offenbar in wehmütiger Stimmung leichter in einem guten Licht sehen kann.
  • Positive Sinnsuche: Das Schwelgen in Erinnerungen lässt das Leben bedeutungsvoller erscheinen. In einer Untersuchung mit amerikanischen Studenten konnten von Natur aus nostalgische Teilnehmer ihrem Leben mehr Sinn abgewinnen als eher nüchterne Kollegen. Derselbe Effekt tritt ein, wenn man dieses Schwelgen künstlich erzeugt. Niederländische Probanden lauschten in einer anderen Studie ihren Lieblingsliedern, und je mehr es sie an etwas erinnerte, desto mehr gab der Song ihnen das Gefühl, ihr Leben sei lebenswert. Wissenschaftler haben gezeigt, dass diese sinngebende Wirkung besonders bei existenziellen Fragen eine Rolle zu spielen scheint: Wer in gesundem Zustand zu Erinnerungen neigt, denkt weniger an den eigenen Tod, und selbst wenn, kommt ihm die Endlichkeit des Lebens weniger sinnlos vor.
  • Besseres Sozialleben: Zeitreisen wirken sich positiv auf die Beziehung zu anderen Menschen aus, wie Studien zeigen. Paare, die gemeinsam in Erinnerungen schwelgen, fühlen sich stärker zusammengehörig als Partner, die über neutrale Ereignisse und Fakten sprachen. 
  • Gesteigertes körperliches Wohlbefinden: Wer in Erinnerungen vertieft ist, dem wird wärmer. In einer Studie schätzten Studenten von Universitäten in China und den Niederlanden den kalten Raum, in dem sie saßen, wärmer ein wenn sie an ein nostalgisches Ereignis dachten. In wehmütiger Stimmung konnten sie ihre Hände zudem länger in kaltes Wasser halten als in neutraler Stimmung. 

 

Fun Fact: Das funktioniert übrigens auch andersherum: Kälte fördert Nostalgie. Probanden, die in einem auf 20 Grad temperierten Raum saßen, waren schwärmerischer als Teilnehmer in 24 und 28 Grad warmen Räumen.

 

Autorin: Anemone Zeim, Vergiss Mein Nie

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